Schon immer war ich eine leise Revoluzzerin, die vieles anders machen wollte. Menschen, die mich nicht so gut kennen oder gekannt haben, sahen in mir früher das stille, schüchterne Mädchen und später die nette, empathische Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Zum Teil stimmt dies auch, aber nur zum Teil. Während des Studiums wurde ich sogar „Engel“ genannt und ich konnte es nicht ausstehen. Dabei wurde vom äußeren Eindruck schnell auf das gesamte Wesen oder den Charakter geschlossen. Aber stille Wasser sind tief, so sagt man, und so kann sich so manche Überraschung hinter der ruhigen Fassade verstecken.

Wie alles anfing

Ein entscheidender Moment war das Jahr, als ich meinen 12. Geburtstag feierte. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Männer ihren Ehefrauen noch verbieten durften, erwerbstätig zu sein. Männer haben damals ihren Frauen auch andere Dinge verboten oder haben es zumindest versucht: zum Beispiel, mit welchen Freundinnen sie sich trafen.

Dabei fiel mir damals auf, dass die Frauen häufig Wege fanden, die an sie gestellten Erwartungen nicht zu erfüllen und doch das zu tun, was sie wollten. Aber irgendwie kam mir das immer sehr schräg vor, weil es heimlich geschehen musste. So wollte ich nicht leben. Und so wurde – ohne dass es mir bewusst war – eine frühe Feministin in mir geboren.

So viele Fragen

Ich stellte mir viele Fragen, wie zum Beispiel: Warum sollen nur Männer mit der Bohrmaschine umgehen können? Das wollte ich auch! Vor allem vor dem Hintergrund, dass viele Männer handwerklich nicht so begabt waren, wie sie es sich wünschten.

So kam es, dass ich mir einen Diodenbausatz mit blinkenden Lichtern zum selber Montieren zulegte und auch erfolgreich zusammenbaute. Zur gleichen Zeit wollte ich Pilotin werden. Kurze Zeit später wählte ich Informatik als Wahlfach in der Schule. Ich wollte mir beweisen, dass ich alles tun kann, auch als Mädchen.

Wahlfreiheit und Ungleichheit

Heute können wir über solche kindlichen Gedanken und Wünsche lachen, denn wir Frauen haben eine viel größere Wahlfreiheit als damals. Und dennoch, wenn ich an den Gender Pay Gap, an den Renten-Pay-Gap und den Care Pay Gap und an das Bild der Frauen in den Medien denke, so haben wir noch viel zu tun. Feminismus war, ist und wird wahrscheinlich noch eine ganze Weile ein umstrittenes Thema bleiben, mit vielen unterschiedlichen Auslegungen sowie regionalen und internationalen Unterschieden.

Würde ich mich heute als Feministin bezeichnen? Ja und nein. Auf der einen Seite gibt es noch viel zu tun, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Auf der anderen Seite erscheinen mir manche Forderungen und Interpretationen des modernen, westlichen Feminismus zu extrem oder zu einseitig, auch wenn ich sehe, dass sie ihre Berechtigung haben.

Trotz Widerständen etwas ändern

Eines habe ich mir seit der damaligen Zeit erhalten: Es war mir immer wichtig, alles bewusst zu hinterfragen. Im Fall der Fälle habe ich immer Wege gefunden, Dinge zu ändern, einen Schlussstrich zu ziehen oder wegzugehen, wenn es mir wichtig war – und auch gegen große Widerstände mein Leben zu gestalten. Ohne diese Fähigkeit hätte ich nicht drei Kinder allein aufziehen und mich nicht selbständig machen können – trotz Gegenwind, Entmutigung und sehr wenig Unterstützung.

Heute bin ich allerdings froh, wenn mir jemand die Schlagbohrmaschine aus der Hand nimmt und mir das Bohren in harten Ziegelwänden abnimmt oder andere handwerkliche Dinge übernimmt. In der Regel bleiben diese Dinge allerdings nach wie vor an mir hängen, weil ich ein Händchen für handwerkliches habe. Finde ich aber gar nicht so schlimm. Viel wichtiger ist die Frage:

Was habe ich daraus gelernt?

Es lohnt sich, Aufgaben im Leben – und dabei denke ich nicht nur an handwerkliche Aufgaben – anzupacken und in Angriff zu nehmen, von denen man nie geglaubt hat, dass man es schafft. Das macht sehr stark und schenkt den Mut, vieles anders zu machen, als andere es von uns oder wir es von uns selbst erwarten. Dies ändert auch das Bild, das wir uns von uns selbst gemacht haben. Denn manchmal stehen wir uns mit unseren Vorstellungen selbst im Wege.

Gleichzeitig ist es gesund, es sich leicht zu machen und Aufgaben abzugeben, um nicht immer alles selbst in die Hand nehmen zu müssen. Wir dürfen uns Hilfe holen, um schneller voranzukommen oder um uns nicht zu verausgaben.

Die goldene Mitte finden

Wie bei vielen anderen Dingen auch, besteht die Kunst darin, die goldene Mitte zu finden: anpacken, wo es nötig ist, und daneben loslassen, wo es möglich ist, um die eigenen Ressourcen zu schonen, und manche Dinge laufen zu lassen.

Die 70er Jahre liegen weit zurück. In der Gleichstellung von Mann und Frau hat sich ein bisschen was getan, aber noch lange nicht genug. Und ich komme jetzt in das Alter, in welchem Frauen häufig unsichtbar werden oder es schon lange sind. (Die alte Feministin erwacht.)

Mein Plan? Alles anders machen.

Beigefarbene Garderobe? Nein danke. Kurze Haare? Jetzt nicht. Gesehen werden? Ja bitte. Coding studieren und White Hat Hacking lernen. Einen Etsy-Shop eröffnen, um meine kunsthandwerklichen Exponate zu verkaufen. Es kribbelt in meinen Fingern. Ein paar weitere Revoluzzer-Ideen stehen bereits auf meiner Liste.

Mal sehen, was noch kommt. Ich werde sicher vieles anders machen als erwartet.

Wissenswertes

  • Das Bild stammt von gstockstudio (Adobe).
  • Dieser Blogartikel ist aus der 55. Blognacht von Anna Koschinski entstanden. Anna lud uns zum folgenden Impulsthema ein: „Wo brichst du gezielt die Regeln? Kleine Revoluzzer-Story“.
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